Gerade zu Jahresbeginn sollten wir uns wieder darauf besinnen: Früher war nicht alles besser.

Aber manches schon. Zum Beispiel das:

"Es existiert ein Mensch, der allein Schuld an allen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen von heute hat."

"Wer?"

"DER STEINSCHEISSER-KOARL!!!"

Wer Zeuge eines solchen Dialogs wurde, hatte früher zwei Reaktionsmöglichkeiten. Kenner des alten Tabuwort-Spiels, in dem es darum geht, den Mitspieler zum Stellen der Frage "Wer?" zu verleiten, woraufhin man mit dem Ausruf "Der Steinscheißer-Koarl!" seinen Triumph feiert, ließen sich ein anerkennendes "G'schossen" entlocken. Alle anderen reagierten mit belustigter oder distanzierter Ratlosigkeit.

In unseren Tagen ist noch eine dritte Möglichkeit dazugekommen: das Ernstnehmen. Es mündet nahezu zwangsläufig in auf diversen Internetportalen explizierten Enthüllungen, wonach es sich bei Karl Steinscheißer um einen von den Bilderbergern, Angela Merkel und der Homosexuellen-Lobby gedungenen Ostküsten-IS-CIA-Tripelagentenfreimaurer handelt, dessen Name ganz eindeutig auf Karl Marx und den Stein der Weisen von Zion Bezug nimmt.

Diese Tendenz zur Verblödung lässt sich noch anhand eines anderen Beispiels illustrieren. Wer früher den Satz "Das steht aber so in der 'Prawda'" aussprach, gab mit dem Verweis auf die für ihre Realitätsferne legendäre russische Parteizeitung selbstironisch zu erkennen, dass ihm die Zweifelhaftigkeit einer Information bewusst war. Wer sich heute in dieser Art auf "Prawda"-Nachfolger wie Russia Today oder "Sputnik" beruft, erwartet ernsthaft, ernst genommen zu werden.

Begünstigt wird diese Entwicklung noch durch die missbräuchliche Verwendung der Kategorie Fake-News. Unter diesem Begriff versteht man seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts eine satirische Ausdrucksform, bei der eine Pointe im Stil einer Nachrichtenmeldung formuliert wird. Was Satire-Medien wie "Die Tagespresse" produzieren, sind Fake-News. Meldungen über einen bevorstehenden Atomschlag Israels gegen Pakistan oder die Unterstützung des Papstes für Donald Trump sind keine Fake-News, sondern Lügen. Wenn ich behaupte, dass die Grünen eine Resolution planen gegen die in Nordsee-Filialen übliche Foltermethode des Waterboardings bei Fischen, bin ich Urheber von Fake-News. Wer behauptet, Alexander Van der Bellens Vater war ein Nazi, ist ein Lügner. Oder im konkreten Fall eine Lügnerin, deren verwerfliches Verhalten auch nicht als "b'soffene G'schicht" zu verharmlosen ist.

Darüber hinaus hat die allgemeine Verharmlosung des Lügens mittlerweile sogar dazu geführt, dass Betrug ganz offiziell als Dienstleistung in Form von Computerprogrammen angeboten wird, welche politische Unterstützung durch real nicht existierende Personen automatisiert vortäuschen. In Deutschland hat sich die AfD schon ungeniert zum künftigen Einsatz dieser Methode bekannt, andere werden wohl folgen. Vielleicht könnte man wenigstens die Millionen uns bevorstehenden Lügen-Accounts unter einem Benutzernamen zusammenfassen. Mein Vorschlag wäre: Steinscheißer-Koarl. (Florian Scheuba, 4.1.2017)